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Vererbbare Netzhautdystrophien

Unter den vererbbaren Netzhautdystrophien wird eine große Gruppe von verschiedenen Erkrankungen zusammengefasst, die in Auftreten und Verlauf deutliche Unterschiede zeigen können, aber in ihrer Entstehung und in der Notwendigkeit der Patientenbetreuung eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen. Sie treten mit einer Häufigkeit von ca. 1:4.000 auf. Da sie sich jedoch in zahlreiche verschiedene Krankheitsformen unterteilen lassen, ist die einzelne spezifische Erkrankung in der Regel sehr selten. Im Wesentlichen lassen sich Netzhautdystrophien, die die gesamte Netzhaut betreffen, abgrenzen von Netzhautdystrophien, die auf bestimmte Netzhautregionen begrenzt bleiben. Bei den generalisierten Netzhautdystrophien lassen sich wiederum Formen abgrenzen, die in der peripheren Netzhaut beginnen und zur Mitte fortschreiten (z.B. Retinitis pigmentosa), und Formen, die im Zentrum beginnen und nach außen fortschreiten (z.B. Zapfen-Stäbchendystrophie). Die regional begrenzt auftretenden Netzhautdystrophien betreffen fast immer die zentrale Netzhaut (= Makuladystrophien).

Gemeinsam ist diesen Erkrankungen die genetische Ursache. Gene enthalten die Information für die Bausteine des Körpers, die Proteine. Liegen Fehler in dieser Information vor (= Genmutationen), können die Bausteine entweder nicht oder nicht richtig gebaut werden. Ein Fehlen oder eine fehlerhafte Funktion der Bausteine führt dann zu einer Funktionsstörung der Netzhaut, die einen fortschreitenden Untergang der Netzhaut zur Folge haben kann.

Die Netzhaut ist ein kompliziertes System, dass aus vielen verschiedenen Bausteinen mit unterschiedlichen Aufgaben zusammengesetzt wird. Die Existenz von mehr als 170 solcher Bausteine ist bekannt, davon ist von mehr als 100 Bausteinen das zugehörige Gen bekannt. Da in jedem Gen auch noch unterschiedliche Mutationen zu unterschiedlichen Funktionsstörungen der Bausteine führen können, ist verständlich, dass es bei den vererbbaren Netzhautdystrophien zahlreiche Varianten in Krankheitsausprägung und Verlauf geben kann. Ausgeprägte Symptome können bereits bei Geburt vorhanden sein (z.B. Leber'sche kongenitale Amaurose), aber auch erst nach dem 50. Lebensjahr auftreten. Die Geschwindigkeit des Verlaufs ist in der Regel umso höher, je früher die Symptome auftreten. Selbst innerhalb von einer Familie mit mehreren Betroffenen kann der Verlauf für jede Person unterschiedlich sein. Daher ist eine genaue Vorhersage des Verlaufs, so wünschenswert sie für Beratung und Berufsplanung wäre, im Einzelfall nie möglich.

In der Netzhaut besteht eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen den lichtempfindlichen Zellen (= Photorezeptoren) und der darunter liegenden Versorgungsschicht, dem Pigmentepithel. Störungen in einer Schicht führen immer auch zu Störungen in der anderen, so können fehlerhafte Bausteine in den Photorezeptoren oder dem Pigmentepithel Netzhautdystrophien auslösen. Bei den Photorezeptoren lassen sich noch zwei Hauptgruppen unterscheiden: die Stäbchen und die Zapfen. Die Stäbchen sind vorwiegend für das Sehen bei Dunkelheit und das äußere Gesichtsfeld zuständig. Funktionsstörungen der Stäbchen führen daher zur Nachtblindheit und zu peripheren Gesichtsfeldausfällen. Die Zapfen vermitteln das Sehen bei Tage, die Sehschärfe und das Farbensehen. Ihre Funktionsstörungen führen zu Blendungsempfindlichkeit, Sehverschlechterung, Leseschwierigkeiten und Farbsinnstörungen.

Ein Verdacht auf eine vererbbare Netzhautdystrophie besteht bei Nachtblindheit, starker Blendungsempfindlichkeit, beidseitiger fortschreitender Sehschärfenminderung oder Gesichtsfeldausfällen sowie bei vorhandenen Betroffenen in der Familie. Ein Verdacht auf eine vererbbare Netzhautdystrophie sollte mit einer detaillierten Augenuntersuchung abgeklärt werden. Dazu gehören eine Prüfung von Sehschärfe und Gesichtsfeld sowie die Ableitung eines Elektroretinogramms (= ERG). Mit dem ERG lassen sich die in der Netzhaut bei Beleuchtung entstehenden Ströme messen. Das ERG ist die wichtigste Untersuchung, um die Diagnose einer Netzhautdystrophie zu stellen und verschiedene Unterformen zu differenzieren. Spezielle ERG-Ableitungen (= multifokales ERG) erlauben eine detaillierte Untersuchung der Makula und damit eine Früherkennung einer Makulafunktionsstörung. Die Untersuchung des Augenhintergrundes (= Ophthalmoskopie) erlaubt die morphologischen Veränderungen der Netzhaut zu erkennen und verschiedene Erkrankungen voneinander abzugrenzen. Es gibt allerdings auch Verlaufsformen, bei denen die Veränderungen am Augenhintergrund nur sehr gering ausgeprägt sind. Neue Verfahren wie die Messung der Autofluoreszenz erlauben eine weitere Differenzierung, müssen aber bezüglich der diagnostischen Bedeutung noch überprüft werden. Besteht ein Verdacht auf ein Makulaödem, z.B. wenn Verzerrtsehen vorliegt, ist eine Farbstoffuntersuchung (= Angiografie) sinnvoll, weil damit über eine medikamentöse Behandlung entschieden werden kann. Eine molekulargenetische Abklärung der Ursache wäre aus verschiedenen Gründen wünschenswert, ist aber derzeit wegen des Aufwandes nicht realisierbar. Bestehen neben der Augensymptomatik noch andere Krankheitssymptome, ist die Abklärung (z.B. Audiologie &Mac226;Usher Syndrom', Neurologie) notwendig, ob möglicherweise ein Syndrom vorliegt. Insgesamt ist es wegen der zahlreichen verschiedenen Formen der Krankheitsausprägung empfehlenswert, die Diagnostik und Beratung durch einen auf vererbbare Netzhautdystrophien spezialisierten Arzt vornehmen zu lassen.

Kontrolluntersuchungen sind sinnvoll, um behandelbare Veränderungen (Katarakt, Makulaödem) zu erkennen. Wichtig sind dabei auch die Beurteilung von Gesichtsfeld und Sehschärfe, weil diese für die Fahrerlaubnis und andere Eignungen sowie die Beurteilung der Behinderung erforderlich sind. Die exakteste Verlaufsbeurteilung erlaubt das ERG, solange messbare Reizantworten vorhanden sind.

Die Behandlung der vererbbaren Netzhautdystrophien ist immer noch unbefriedigend. Mit Ausnahme einzelner, sehr seltener Erkrankungen gibt es keine Behandlungsmöglichkeiten. Die Behandlung beschränkt sich daher auf optische oder elektronische Hilfsmittel zur Verbesserung der Lesefähigkeit, Mobilitätstraining und die Behandlung von Begleitkomplikationen wie Katarakt oder Makulaödem.

Die intensive Forschung der letzten Jahre hat das Verständnis der Krankheitsursachen wesentlich verbessert und Voraussetzungen für eine Therapieentwicklung geschaffen. So existieren Modelle zur Gentherapie, die im Tierexperiment erprobt werden, ebenso wie künstliche Netzhaut-Implantate, die derzeit beim Menschen versuchsweise eingesetzt werden. Noch ist allerdings offen, wann diese neuen Möglichkeiten die Sicherheit für einen breiteren Einsatz erreicht haben.